Kontrapunkt und Akkordlehre – Musikalische Dimensionen
Viele Musikschüler lernen ihr Instrument praktisch ohne theoretisches Wissen, denn leider ist Musiktheorie im Unterrichtsalltag nur ein Randthema. Musiklehrer sind schon froh, wenn das Spielen auf dem Instrument klappt, wodurch die Harmonielehre in der Regel den Theoretikern und Musikstudenten überlassen bleibt.
Die Musiktheorie bzw. die Harmonielehre hat aber nur ihre Berechtigung, wenn sie der Gehörbildung dient und diese ergänzt. Die analytische Beschäftigung mit Musiktheorie sollte stets die
praktische Anwendung zum Ziel haben.
Um nicht in abstrakter Theorie stecken zu bleiben, versuche ich mit diesem Blogartikel, eine enge Beziehung zwischen Instrument, Gehör und Musiktheorie herzustellen.
Selbst erfahrenen Musikern fällt es oft schwer, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Bereichen zu finden. Das ist sehr schade, denn ohne Wissen über die Zusammenhänge können Musiker nur einen Teil ihrer Musik genießen, der meiste Zauber geht verloren.
Viele, die schon ein Instrument spielen, stehen nach einiger Zeit vor der Aufgabe, mehr über den Aufbau der Musik, die sie spielen, zu erfahren. Einerseits, weil man selber neugierig und wissbegierig ist, anderseits raten die Musiklehrer dazu.
Harmonielehre
Meistens beginnen wir mit einem der vielen Bücher über Harmonielehre, welche (fast) alle recht gleich aufgebaut sind. Diese Bücher vermitteln Wissenswertes über die Akkorde, Dreiklänge, Kadenzen und über die verschiedenen Formen der Musikstücke, vor allem über die Pop- und Jazz-Harmonielehre, bei der die Sichtweise der Akkord- und Stufenlehre vorherrscht und sich in der Praxis durchgesetzt hat.
Am Rande werden noch kurz das Generalbass-Prinzip und der Kontrapunkt vorgestellt; dabei wird dann betont, dass dies heutzutage im Pop-Jazz Bereich nicht mehr benutzt wird. Ich habe selber einige Semester am Jazz-Konservatorium das Gleiche gelernt.
Interessant ist jedoch die Tatsache, dass dies nicht zum tiefen Verständnis der Musik führt. Wie kann das sein, wo es doch so viele Bücher über Harmonie-, Akkord- und Stufenlehre gibt? Diese Bücher verraten nicht, welche Dimension in der Musik die wichtigste ist.
Die eigentliche Frage ist, welche Methode beschreibt die Musik ganzheitlicher bzw. umfassender? Was führt zum Verständnis der Musik? Die Akkordehre, die ein Teil der Harmonielehre ist? Oder gibt es noch eine „dunkle, bis jetzt nicht entdeckte musikalische Materie, Energie"? Diesen Vergleich habe ich aus der Physik entlehnt.
Die kurze Antwort lautet: der Kontrapunkt bzw. die Stimmführung
Jetzt etwas ausführlicher. Die Harmonielehre ist die Lehre von den Akkorden und ihrer Bedeutung im Dur-Moll-System.
Die Kadenz, also eine Abfolge von Stufen (I-IV-V-I), bildet die Basis für unser westliches Harmonieverständnis. Aus diesem Grund ist sie auch in vielen Stücken zu finden, von der Volksmusik bis zum Pop. Eng mit ihr verknüpft ist die Tonsatzlehre. „Tonsatz“ bedeutet das Anordnen (eben "Setzen") der Töne, der Noten in mehrstimmiger Musik.
Also ähnlich wie jemand, der einen Artikel schreibt, indem er die Buchstaben einzeln eintippt und so die Wörter und Sätze, die er sich ausgedacht hat, lesbar macht. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange und aus diesem Grund möchte ich jetzt die andere musikalische Dimension, den Kontrapunkt beschreiben.
Wenn jemand Musik studiert, wird fälschlicherweise nicht gleich zu Beginn der Kontrapunkt vorgestellt.
Kontrapunkt
Das Wort „Kontrapunkt“ stammt vom lateinischen Ausdruck „punctum contra punctum ponere“, zu Deutsch: „Note gegen Note“. Der Kontrapunkt selbst ist nichts anderes: Eine Note wird zu einer anderen Note hinzugesetzt, damit die zwei Noten gleichzeitig harmonisch erklingen können.
Die Kontrapunktlehre ist eine Sammlung von Regeln, die die mehrstimmige Musik organisieren. Sie kann auch als Anleitung für einen Komponisten (Liedermacher) gesehen werden, wie mehrere Stimmen gleichzeitig geführt werden können, sodass das Ergebnis harmonisch und in sich geschlossen klingt.
Ein kurzes Video soll dies zeigen.
Vor dem Barockzeitalter wurden die Zusammenklänge mehrerer Töne eher als Nebenprodukt des linearen Geschehens mehrerer Stimmen betrachtet.
Aus den vielen Möglichkeiten, die sich zwischen zwei Stimmen ergeben, haben sich einige brauchbare Lösungen herauskristallisiert. Die Musiker haben diese Möglichkeiten in vier Grundregeln zusammengefasst. Diese Regeln sind ähnlich wie die für die Züge der Schachfiguren: In beiden Fällen geht es um Ortsveränderung, also um eine Bewegung.
Der Begriff „Kontrapunkt“ wird durch die häufige Gleichsetzung mit „Polyphonie“ (Mehrstimmigkeit) in einem weiteren Sinne als Stilbegriff verwendet. .
Diese Betrachtungsweise (der Kontrapunktische) hat ihre Bedeutung scheinbar verloren, weil sie von moderneren Stufentheorie und der Funktionstheorie abgelöst worden ist.
Das ist aber nicht richtig. Aber der Kontrapunkt bleibt weiter gültig, weil er von einer Urtatsache, nämlich der Obertonreihe ausgeht.
Ein Popsong (z. B. von den Beatles) lässt sich auf den ersten Blick mit der Stufen- und Funktionstheorie von Akkorden recht gut erklären. Recht gut ja, aber nicht ausreichend, wenn wir den Aufbau und die Struktur des Songs gründlich verstehen wollen.
Der österreichische Musikforscher Heinrich Schenker entdeckte, dass tiefes Verständnis in der Musik vom Wissen über die im Hintergrund verborgenden Wirkkräfte herrührt. Weiter stellte er fest, dass diese Wirkkräfte, die zwischen den Tönen vorhanden sind, die Komponisten im Verborgenen leiten und gleichzeitig die Richtung vorgeben, welche sie dann geschickt befolgen und künstlerisch gestalten.
Schenker erkannte die Wichtigkeit und Bedeutung der Stimmführung und wie diese sich in der Praxis vollzieht: Die Stimmführung leitet den Komponisten auch dann, wenn es ihm nicht bewusst ist. Er führt die Stimmführung intuitiv aus.
So schreibt Schenker: „Der Stimmführungszwang ist es, der in der Musik den gleichen Fluss hineinträgt, wie ihn die Sprache in der steten Gedanken Wortbereitschaft zeigt.“
Wahrscheinlich haben John Lennon und Paul McCartney vom Kontrapunkt wenig gewusst, aber in ihren Songs, in denen es viele schöne mehrstimmige Passagen gibt, die Stimmführung bzw. die Kontrapunkt-Regel unterbewusst angewandt, indem sie ihren musikalischen Instinkten gefolgt sind.
Dazu passt sehr gut ein weiteres Zitat von Schenker:
„Die Meister leben in den Intervallen, Zügen, Diminutionen gleichsam wie Fische im Wasser; vermögen sie auch ganz Genaues über das Element nicht zu sagen, in dem sie gedeihen.“
Jeder, der sich mit der Musik gründlicher befassen will, sollte sich idealerweise zuerst mit dem Kontrapunkt beschäftigen. Auch die, die nicht aktiv musizieren, sondern nur Musik bewusst hören und verstehen wollen, sollten den Kontrapunkt und seine Regeln kennen. Dabei ist das Musikgenre, mit dem man sich beschäftigt, nicht relevant.
Dieses Prinzip hat Felix Salzer, österreichischer Musikwissenschaftler und Pädagoge, in seinem Buch „Strukturelles Hören“ vorgestellt und beschrieben. Er hat versucht eine Brücke zu schaffen zwischen dem Kontrapunkt und der Akkordlehre bzw. der Akkordfunktion.
Beide sind gut und nützlich, aber in der Praxis sollte die optimale Reihenfolge eingehalten werden: Zu Beginn steht das Erlernen der Regeln des Kontrapunkts und erst danach die der Akkorde.
Der zweistimmige Kontrapunkt bietet eine gute Möglichkeit der systematischen Einführung der Stimmführung. Dieses Wissen über den Kontrapunkt, die Stimmführung und die Wirkkräfte, wird ein treuer Begleiter für ein ganzes Musiker-Leben sein, ein Aha-Erlebnis schaffen und viel Freude an der Musik mit sich bringen. Der Kontrapunkt hilft dabei, Akkorde und Noten herauszuhören, und auch beim Transponieren, Improvisieren und Komponieren.
Jemand, der so lernt, wird die gestaltenden Kräfte und die Dimensionen in der Musik auch richtig kennen und verstehen.
Es herrschen zwei verschiedene Betrachtungsweisen vor: Die vertikale (oben-unten) Dimension – das sind die Stufen- und die Funktionstheorie – und die horizontale (link-rechts) Dimension, die Stimmführung bzw. das kontrapunktisches Prinzip. Die Vereinigung dieser beiden ist ein Gewinn: Je mehr Dimension der Musik wir kennen, desto mehr können wir sie verstehen und genießen.
neue musikalische dimension
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Du musst nicht einmal ein Instrument spielen können, um all dies lernen zu können. Heutzutage gibt es tolle Hilfsmittel und Software, die ein Instrument ersetzen können. Mithilfe eines Notationsprogramms kann jeder mehrstimmige Musik hörbar machen, ohne ein Instrument zu beherrschen.
Nur die eigene Gehörbildung kann nicht ersetzt werden. Auch dazu gibt es einen passenden Online Video Kurs "Gehörbildung leicht gemacht" eine effektive und praktische Lernmethode mit der du dein Gehör schnell bilden kannst.
Musikverstehen und Musikwissen für alle!
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